Hanreti, Version 2022: Sänger Timo Keller (zweiter von rechts) und Bassist Rees Coray (ganz rechts). (Bild: Christian Felber)

«Wir sind uns diese irren Sachen ja gewohnt»

Kultz, März 2022

Ein Konzeptalbum über eine Antarktisexpedition? Dazu einen 45-minütigen Film? Und was hat das Ganze mit Hühnern zu tun? Hanreti, wir haben da ein paar Fragen.

Timo Kellers Pläne wurden soeben zunichte gemacht – von einem Fuchs. Auf dem Bauernhof, auf dem er wohnt, wollte der Hanreti-Sänger eine seltene Hühnerrasse züchten. Bis das Raubtier eines Nachts die Beute witterte.

Ein Glück, dass die musikalischen Pläne weniger anfällig auf tierische Interventionen sind als die Geflügelzucht. Abenteuerlich muten aber auch diese an: «The Afterdark», das fünfte Album der Luzerner Band, erscheint am 11. März.

Die Truppe um den hyperaktiven Sänger und Songschreiber hat es nicht bei einem normalen Album belassen und veröffentlicht zugleich einen Film in Albumlänge der Videokünstlerin Isabelle Weber. Eisige Animationslandschaften treffen auf absurde Laborszenen. Als Forscher beweisen die fünf Hanretis Schauspieltalent, gedreht wurde – wie könnte es anders sein – im Südpol.

Wir treffen den Sänger Timo Keller und den Bassisten Rees Coray und sprechen über Grössenwahn, Klimakrise und Hanretis dunkle Seite.

Die Idee eines Konzeptalbums scheint ziemlich aus der Zeit gefallen.

Timo Keller: Ja, gleich doppelt. Wenn alle davon reden, nur noch Songs zu releasen, ist schon ein Album aus der Zeit gefallen – ein Konzeptalbum erst recht. Aber letztlich haben wir nie Musik gemacht, um in der Zeit stattzufinden. Aber wir machen sicher einmal ein völlig auf Spotify getrimmtes Album.

Und Konzeptalben wirken oft pädagogisch. Wie vermeidet ihr das?

Keller: Gar nicht. Wir haben uns nie darüber Gedanken gemacht. Ein Song auf dem Album – «Any Other Day Pt. I» – hat so einen Südamerika-Afro-Damon-Albarn-Vibe. Damit wollten wir das stiere Antarktis-Konzept etwas brechen.

Dass ihr euch mit der Antarktis und Polarforscher*innen beschäftigt, hat Erklärungsbedarf.

Keller: Vor drei Jahren las ich ein Buch über den Polarforscher Sir Ernest Shackleton. Der Typ wollte mit einer Gang die Antarktis überqueren, ist mit dem Schiff im Eis steckengeblieben und musste zwei Jahre überwintern. Mir gefiel die Geschichte und ich fing an, mich mit diesem Kontinent zu befassen. Ich wollte die Weite und Zeitlosigkeit der Antarktis musikalisch verwerten. Wir reden als Band häufig von horizontaler Musik. Die Vibes und Bilder der Antarktis connecten recht gut damit.

Verändert sich das Songwriting, wenn man ein übergeordnetes Thema hat?

Keller: Man darf es auch nicht überbewerten. Man kann jeden Song im Nachhinein ins Konzept passen. Aber der Prozess dieses Albums war speziell: Wir haben es dreimal völlig anders aufgenommen, bis wir zufrieden waren. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit seit dem letzten Album. Ich mag es, wenn Produktionen schnell vorwärts gehen, ich brauche das Tempo. Darum bin ich jetzt getriggert, dieses Jahr nochmals ein Album herauszubringen.

Rees, wie hast du auf die Idee des Konzeptalbums über die Antarktis reagiert?

Rees Coray: Das hat mich jetzt überhaupt nicht beunruhigt. Wir sind uns diese irren Sachen ja gewohnt – und sie machen auch Spass. Timo redet nicht nur, er macht es dann auch.

Und wie ist es als Band, den Ideen zu folgen?

Coray: Timo ist der Songschreiber, bringt das Material und gibt die Richtung vor. Wir versuchen seine wahnsinnigen Ideen auszuarbeiten, so gut wir können. Es gibt auch Reibungspunkte, aber weil ich in Graubünden wohne, kriege ich nicht alles mit. Aber letztlich gibt es immer einen schönen Konsens.

Keller: Die Band ist die Voraussetzung, damit ich überhaupt so Ideen haben kann. Dumme Ideen wie Chöre oder Guuggenmusigen auf der Bühne sind nur möglich, weil ich vier Musiker an meiner Seite habe, die mitziehen und meine Ideen verstehen.

Ganz offensichtlich interessieren sich die fünf Hanretis für Polarforschung. (Bild: Christian Felber)

Ihr habt zudem nicht einfach einen Videoclip gemacht, sondern einen Film über die ganze Albumlänge. Sind Hanreti grössenwahnsinnig geworden?

Keller: Nein, das waren wir schon immer.

Coray: Ja, also vor allem Timo. Wir folgen ihm einfach in seinem Grössenwahn.

Die Videokünstlerin Isabelle Weber hat den Film umgesetzt. Wie viel Einfluss habt ihr als Band genommen?

Keller: Es gab mal ein Video von Dans la Tente, das animierte Artwork von Mathis Pfäffli, das ein Aquarium zeigt. Das fand ich so geil. Ich fragte Isabelle mit diesem Konzept im Kopf an – und dann ist es etwas ausgeartet … Es ist etwas herausgekommen, das ich völlig nicht greifen kann. Etwas zwischen Fantasie-Antarktis-Welt und uns als Band, die schauspielern durfte. Gewisse von uns haben brilliert ohne Ende.

Coray: Ja, vor allem Luki! (Lachen) Wenn Hanreti zusammenkommt, geht alles sehr schnell. Da kommt immer eine riesige Ladung und du bist mit allem überfordert. Was ja auch mega cool ist. Das war hier auch so, als wir im August drehten. Für mich geht es mit Hanreti darum: Es ist Kunst der Kunst willen.

Zum Titel «Afterdark»: Hat die Geschichte mit dem gleichnamigen Roman des japanischen Autors Haruki Murakami zu tun?

Keller: Ich habe es erst danach herausgefunden. Kennst du das Buch?

Ehrlich gesagt nein …

Keller: Du hast es also auch gegoogelt (lacht). Wie schon «Cuetrigger», der Titel des zweiten Albums, ist «Afterdark» eine Kellersche Wortschöpfung. Ich suchte einen Begriff für das Unfassbare, das nach der Dunkelheit und der Kälte kommt. «Afterdark» singt sich schön und löst etwas Spezifisches aus. Viele beziehen es auf Licht, den Morgen, andere sehen es auf einer psychischen Ebene. Ich beziehe es mehr auf die Gesellschaft.

Ist das Konzeptalbum Gesellschaftskritik? Über das Rennen um die letzten unberührten Gebiete oder gegen die Untätigkeit angesichts der Erderhitzung?

Keller: Die Antarktis ist ja ein guter Gradmesser, die Eisschichten sind unsere Klimakarte. Es geht auf dem Album vielfach um die Klimakrise, etwa im Song «Talking Dust / Flooding the Earth». Zudem finde ich den Wahnsinn des Menschen, jede Ecke der Welt besitzen zu wollen, absurd… Bei den ersten Antarktis-Expeditionen der Norweger und Engländer ging’s nur darum, wer als erstes das Fähnchen einstecken kann. Dieses ewige Fähnchen einstecken geht hart auf den Sack.

Der Grundton ist düsterer und psychedelischer: Ist es eine schwierige Zeit, unbeschwerte Töne anzuschlagen? 

Keller: Die Songs basieren auf meiner neu entdeckten Liebe für Synthesizer, daraus ist auch der eisige Antarktis-Vibe entstanden. Aber wir tanzen recht gut auf der Klippe zwischen dem kalten Vibe und unserer warmen Wilco-War-on-Drugs-Musik, die immer noch da ist. Aber es ist sicher das dunkelste Album bisher.

Coray: Der Mood ist recht dunkel, aber den typischen deepen Hanreti-Vibe wollten wir trotzdem irgendwie behalten. Das ist uns schon auch wichtig, da müssen wir als Band manchmal etwas nachdrücken.

Wohin geht die Expedition als nächstes?

Coray: Ich bin selber gespannt, welche Idee Timo auf dem Bauernhof als nächstes in den Sinn kommt und wohin die Reise geht.

Keller: Das nächste Album heisst «Kegel» und ist eine Fortsetzung von «Afterdark». Das nehmen wir im Sommer mit einer ziemlich grossen Band aus Musiker*innen aus dem Jazz- und Klassikbereich an einem Tag auf und bringen es noch möglichst dieses Jahr heraus. Das ist zumindest der Stand jetzt.

Das neue Album

«The Afterdark» von Hanreti erscheint am 11. März 2022 auf Orange Peel Records. Hanreti sind: Timo Keller, Jeremy Sigrist, Lukas Weber, Mario Hänni, Rees Coray.