Aufgewachsen im Entlebuch, politisch beheimatet bei der CVP: Letizia Ineichen ist neue Kulturchefin der Stadt Luzern. Bild: Kultz

«Ich bin nicht Kulturchefin fürs KKL»

Kultz, November 2020

Mit Letizia Ineichen ist die kulturelle Leitung der Stadt Luzern nun in bürgerlicher Hand. Was hat das zu bedeuten? Ein Gespräch über Geld, Visionen und Alternativkultur.

Interview: Anja Nora Schulthess, Jonas Wydler

Letizia Ineichen sitzt in einem schmucklosen Übergangsbüro. Mit diesem muss sie sich noch bis zum offiziellen Stellenantritt im Januar begnügen. Nur ein Bild der Luzerner Künstlerin Marie-Theres Amici bringt etwas Farbe in die temporäre Wirkungsstätte der neuen Leiterin Kultur und Sport der Stadt Luzern.

Im Interview schlägt die studierte Musikerin keine lauten Töne an. Ineichen ist Diplomatin. Auf kritische Fragen antwortet die 41-jährige CVP-Politikerin taktisch ausweichend und immer freundlich. Ihre Äusserungen sind wenig fassbar. Sie legt sich nicht fest und lehnt sich nicht heraus.

Ihre Vorgängerin Rosie Bitterli war als Kulturchefin sehr präsent, stark und mächtig. Sie kennt die Stadtverwaltung seit Jahrzehnten aus dem innersten Kreis. Wie kann man sie ersetzen?

Letizia Ineichen: Es geht mir nicht um einen Ersatz, sondern um die Sache. Ich werde überzeugend und bewusst für die Kultur einstehen. Dass ich im Stadthaus noch nicht so bekannt bin, ist naheliegend und kann sich ja noch ändern.

Was werden Sie anders machen als Rosie Bitterli?

Das wird sich weisen, ich bin mich zurzeit am Einarbeiten, werde vertraut mit den verschiedenen Aufgaben und Abläufen. Rosie hatte einen sehr breiten Blick auf die Kultur und hat diese immer mit einer starken Stimme vertreten. Das beeindruckte mich.

Um an das Amt zu kommen, mussten Sie letztlich Stadtpräsidenten Beat Züsli überzeugen. Was war Ihre Taktik?

Letztlich war es ein Gremium, das mich gewählt hat. Wahrscheinlich war es ein Gesamtbouquet aus meinen Vorstellungen, wie ich Kultur und Sport in der Stadt sehe, meinen Kompetenzen, meinen Leistungsausweisen, meinen Aus- und Weiterbildungen, meiner Persönlichkeit und sicher auch meinem Netzwerk.

Was ist denn Ihre Vision von der Kulturstadt Luzern?

Wenn ich es auf drei Schlagwörter bringen müsste: smart, vernetzt, inspirierend. Der Kulturstandort muss smart sein, er muss mit einer kecken, reflektieren Ausstrahlung die Bevölkerung inspirieren und sich über die verschiedenen Bereiche hinaus vernetzen. Und zwar vom Kleinen bis zum Grossen, vom Lokalen, Regionalen bis zum Nationalen und Internationalen, von der freien Szene bis zu den «gebundenen» Kulturhäusern.

Wie gut kennen Sie das kulturelle Leben der Stadt denn schon?

Ich verfüge über einen Überblick in der Breite und über die Vielfalt, was der Kulturstandort Luzern bietet. Es reizt mich nun sehr, noch tiefer einzutauchen, um mir ein fundiertes Bild zu machen. Hierbei helfen ebenso Gespräche und Austauschtreffen mit Kulturschaffenden und den Institutionen, aber auch Besuche von Veranstaltungen.

Man kennt Sie als KKL-Gängerin und Sie sind beim Lucerne Festival involviert. Endet Ihr Kulturverständnis beim Europaplatz?

Ich bin seit rund 20 Jahren Teil des Saalteams von Lucerne Festival, weil mich die klassische Musik seit früh begleitet, fasziniert und ich später auch mein Musikstudium darauf auslegte. Dass mein Kulturverständnis beim Europaplatz endet, verneine ich sehr klar. Mich interessiert die Vielfalt der Kultur, der Kunstformen. Das Interesse spiegelt sich auch in meinem bisherigen Werdegang sehr klar wieder.

Was interessiert Sie denn ausserhalb der Klassik?

Ich mag verschiedene Musikstilrichtungen – allem voran fühle ich mich der lateinamerikanischen Musik sehr nahe. Was mich an Kunst und Kultur fasziniert, sind die verschiedenen Ausdrucksweisen, etwa das sinnliche, körperbezogene Momentum des Tanzes, die Ausdruckskraft von Stimmen, die Farben und Formen von bildnerischen Produkten.

Neben der etablierten Kultur gibt es in Luzern eine aktive Alternativ-Szene. Wie stehen Sie zu dieser?

Werden diese Bereiche gegeneinander ausgespielt, verliert die Kultur ihre Kraft. Es zeugt von einer einseitigen Reflexion, was Kultur im Grunde genommen ist, will und kann. Was im KKL läuft, ist doch nicht nur elitär, dort finden auch wichtige Blas- oder Volksmusik-Veranstaltungen statt. Auch das ist für eine Gesellschaft extrem wichtig, wenn ich an meine Herkunft auf dem Land zurückdenke. Jedoch bin ich nicht Kulturchefin für das KKL oder nur für die – wie Sie sagen – «etablierte» Kultur, sondern für die Stadt Luzern.

Der Sedel oder die Industriestrasse gehören für Sie also auch dazu?

Die verschiedenen Orte vom KKL bis in den Sedel, vom Neubad bis in die Peripherie, sind wichtig. Es ist mir wichtig, den Überblick und das Verständnis zu haben, was dort läuft, denn das kulturelle Schaffen kannst du erst nachvollziehen und verstehen, wenn du vor Ort bist und dich damit auseinandersetzt.

Sie reden von einem sehr breiten Kulturbegriff. Hat auch die Luzerner Partyszene eine gesellschaftliche Relevanz?

Ja sicher, die ist für ganz viele junge Menschen ein wichtiger Teil, der soziale Austausch ist wichtig. Die Partyszene als solche aber würde ich nicht unbedingt als kulturelles Schaffen sehen. Was den künstlerischen Aspekt betrifft, den sehe ich vor allem darin, wenn ein DJ auflegt, Grooves erzeugt und kreativ im Moment Musik gestaltet.

Rosie Bitterli war eine Grüne, Sie waren Vizepräsidentin der CVP Stadt Luzern. Ist eine bürgerliche Kulturchefin ein Manko in einer linken Stadt?

Das hat keinen Einfluss. Wer mich kennt, weiss, dass ich sachpolitisch unterwegs bin – auch in dieser wichtigen Funktion als Kulturchefin. So habe ich mich immer für die kulturellen Themen und die Bildung eingesetzt.

Eine SVP-Politikerin in diesem Amt wäre aber schwer vorstellbar. Die politische Haltung hat doch einen Einfluss auf den Kulturbegriff.

Wieso nicht? Es kommt doch ganz auf den Charakter, die Fähigkeiten und den Hintergrund der Person an. Es braucht aber – unabhängig vom Parteibuch – Reflexionsfähigkeit, strukturiert vernetztes Denken und Empathie für Personen und Kultur.

Werden Sie auch 20 Jahre auf diesem Posten bleiben wie ihre Vorgängerin?

(lacht) Das ist eine Frage, die sich mit der Zeit stellen wird. Es steht Einiges an, auch neben Corona. Das Amt braucht eine Perspektive, das macht man nicht nur zwei, drei Jahre lang.

Man kann das Amt verschieden interpretieren: Sehen Sie sich als Lobbyistin für die Kultur – oder eher als stille Verwalterin?

Zuerst geht es darum, mich sauber und sorgfältig einzuarbeiten und die verschiedenen Gremien, Themen und Unterlagen zu kennen. Wenn ich die Dossiers, die Institutionen und auch die Personen kenne, werde ich mich für die Sache einsetzen. Es ist je länger je wichtiger, dass wir der Kultur eine Stimme geben. Wir merken gerade aktuell, was für eine gesellschaftliche Relevanz Kultur hat.

Durch die Pandemie steckt die Kultur in einer Krise. Welche Unterstützung werden Sie als neue Kulturchefin liefern?

Im Moment sind Ausfallentschädigungen und Hilfeleistungen beim Kanton angesetzt. Ich glaube aber, dass wir in der Stadt gefordert sein werden, wenn die längerfristigen Folgen spürbar sind. Da kommt Einiges auf uns zu.

Sie sehen seitens der Stadt also keinen dringenden Handlungsbedarf?

Das kann so nicht gesagt werden. Dennoch bringt es aktuell wenig, die Gelder nach einem willkürlichen Prinzip zu verteilen, denn: Alle haben Bedarf! Aktuell liegt jedoch die Zuständigkeit beim Kanton, dies sauber zu regeln. Was wir tun: Wir schauen an Roundtables mit verschiedenen Kulturinstitutionen, wie die Situation aktuell und in naher Zukunft aussieht. Wir sind also da, denn es ist uns ganz und gar nicht egal, was mit den verschiedenen Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen passiert.

Wie wird sich die Kulturlandschaft durch Corona verändern?

Die Krisenbewältigung kann dazu führen, dass einzelne Institutionen gewisse Sachen loslassen und sich gegebenenfalls auch neu organisieren oder neu definieren müssen. Ich erachte hierbei den Dialog über die einzelnen Institutionen, Sparten und Personen als Chance.

Es gibt die Befürchtung, dass die Krise eine Kulturselektion zur Folge hat. Daher die Frage: Wie ökonomisch muss Kultur sein?

Wir subventionieren Kulturinstitutionen nicht vollumfänglich, da ist immer auch ein Eigenanteil dabei. Das heisst also, dass es ohne eine gewisse Wirtschaftlichkeit nicht geht. Dennoch gilt es nun genau hinzuschauen: Viele Kulturschaffende und Institutionen sind am Anschlag und können sich nur noch knapp über Wasser halten. Es stellt sich die Frage, ob sich die kurzfristigen Ausfälle wieder stabilisieren werden oder ob Strukturen innerhalb der Institutionen verändert werden müssen. Diese Fragen müssen sich alle stellen.

Ketzerisch gefragt: Bringt die erzwungene Selektion auch Vorteile mit sich?

Jede Kulturinstitution, die schliessen muss, stellt einen klaren Verlust dar. Es muss unser Bestreben sein, die Institutionen und Aktivitäten in ihrer Vielfalt zu stützen. Trotzdem gilt es, dass jeder Betrieb seine eigenen Strukturen überdenken muss: Kann man sich anders organisieren?

Ihre Vorgängerin ist künftig Projektverantwortliche für den Theaterneubau. Wie wird hier die Zusammenarbeit aussehen zwischen Rosie Bitterli und Ihnen?

Offen und unabhängig. Ich schätze ihr riesiges Wissen und Know-how sehr. Einen regelmässigen Austausch wird es in der Anfangsphase sicher geben, denn das neue Luzerner Theater betrifft uns auch in der Kulturabteilung.

Wird das neue Theater trotz Widerstand aus dem Denkmalschutz irgendwann am jetzigen Standort gebaut?

Ja. Ich hoffe, dass wir merken, welch wichtige Funktion dieses Theater hat. Und wie wichtig es ist, dass das kulturelle Schaffen mitten im Zentrum stattfinden kann.

Die Musikhochschule und die Kunsthochschule haben die Stadt Luzern verlassen. Wie beurteilen Sie diese Verschiebung der kreativen Szene in die Peripherie?

Kreatives Schaffen braucht Platz, mittendrin gibt es einfach zu wenig bebaubare Flächen. Man sieht ja jetzt schon, dass das Unigebäude neben dem Bahnhof eigentlich schon wieder zu klein ist. Wir haben in der Peripherie draussen jetzt vor allem die Hochschulen und Ausbildungsstätten. Ich glaube aber, das kulturelle Schaffen auch künftig unbedingt seinen Platz mitten in der Stadt haben muss. Da haben wir gute Beispiele mit der Loge, dem Neubad oder der Schüür.

Die Beziehung zwischen Stadt und Kanton ist angespannt. Kann Ihre Entlebucher Herkunft dabei ein Vorteil sein?

Ich habe beide Blickwinkel. Einerseits bin ich seit 20 Jahren der Stadt verbunden, bin hier tätig und fühle mich hier zu Hause. Andererseits kenne ich das ländliche Denken. Auch dort definiert man sich massgeblich über kulturelle Vereinigungen – Chöre, Blasmusiken, Orchester. Das geschieht vielleicht auf einer anderen Ebene, aber solche Strukturen sind sehr wichtig für das gesellschaftliche Leben.

Zum Schluss ein paar Kurzfragen: CVP oder die Mitte?

Die Mitte, ganz klar.

KKL oder Südpol?

Beides!

Zug oder Flugzeug?

Eher Velo.

Bier oder Aperol Spritz?

Bier mag ich nicht, also Aperol Spritz.

Lucerne Festival oder Blue Balls?

Schwierige Frage. Lucerne Festival, weil während des Blue Balls bin ich meistens in den Ferien.

Jazzfestival Willisau oder B-Sides?

Auch schwierig. B-Sides.

Thomas Hösli oder Angy Burri?

Angy Burri.

Shakespeare oder Schlingensief?

Schlingensief.

Capitol oder Stattkino?

Stattkino.